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4.1 Die Geheime Geschichte der Mongolen (ca. 1227-1264)
Die so genannte Geheime Geschichte der Mongolen wurde im Jahre 1240 von Ogodai, dem Sohn Dschinghis Khans, in Auftrag gegeben.[98] Der im Sterben liegende Herrscher[99] wusste um die Wichtigkeit einer Schrift die, in der Tradition verankert, dem gewünschten Thronfolger Legitimation und Umsicht im Regieren bescheren sollte. So entstand nach Jahrzehnten der mündlichen Überlieferung „nicht nur die älteste bekannte, sondern auch die einzig erhaltene Überlieferung aus der Zeit der mongolischen Reichsgründung: Mythos, Epos und Geschichtsschreibung zugleich“.[100] Erzählt wird die Geschichte vom „Aufstieg [des] armen Halbwaisen Temujin zum allesbeherrschenden Dschinghis Khan“[101], eine alle Motive und Topoi bedienende Heldendichtung mit hagiographischen Zügen.[102]
Für die Forschung stellt sich die Frage, ob die Geheime Geschichte der literarischen Gattung nach Chronik oder Epos ist. Für Bartold ist sie hauptsächlich Gedicht.[103] Nach Poucha handelt es sich um
„eine Chronik, die alle charakteristischen Eigenschaften einer altertümlichen Chronik aufweist, die auch in europäischen Chroniken zu finden sind: sie entwickelt den Gang der Begebenheiten aus der Urzeit (in europäischen Chroniken jener Zeit fängt man mit der Welterschaffung an), sie schildert vorhistorische und historische Begebenheiten, die Helden der Chronik reden und tragen Gedichte vor.“[104]
Eine Chronik mit Teilen wesentlich älterer epischer Lieder, mit versifizierten Briefen, verschiedensten Formen von Gedichten, Hochzeits- und Klageliedern, Schwurformeln, Hymnen, Ermahnungen, Elegien, Sprüchen, Redewendungen und vielem mehr im Stil der mündlich tradierten epischen Dichtung.[105] Fast ein Drittel der Geheimen Geschichte ist in Versen abgefasst[106], meistens im traditionellen mongolischen Stabreim. Erzählt werden Geschichten aus dem Alltagsleben[107] in beschönigender Weise.
Auch wenn diese Chronik wenig davon enthält, „was man eigentlich Geschichte nennt“[108], so ist sie doch unerlässlich für das Wissen über die Kultur und Organisation der Mongolen, weil uns europäische Quellen darüber zu diesem frühen Zeitpunkt des mongolischen Reiches noch sehr wenig sagen. Die in die Stammbäume eingearbeiteten Totemtiere als Begründer einer Dynastie geben Aufschluss über den religiösen Aspekt, die Tendenz, soviel Stämme wie möglich auf Dschinghis Khan zurückzuführen und über den politischen Aspekt. Die Steigerung von Raub- und Rachefeldzügen zu großen Schlachten mit, auch logistisch kriegerischen Dimensionen, wird ebenfalls deutlich. Niederlagen und auch Gräueltaten, wie in Kapitel 3 geschildert, werden dabei fast vollständig ausgeblendet.
Die neuere Forschung sieht überwiegend in Šigi-Quduqun den Verfasser der Geheimen Geschichte. Er war „einer der ersten schriftkundigen Mongolen“[109], begleitete Dschinghis Khan auf vielen Feldzügen, vor allem ging alles „durch seine Hände [...], was für die damaligen Mongolen von Wichtigkeit war, [...] und von ihm aufgezeichnet werden musste.“[110]
Dass er dem Herrscher so nahe stand, von ihm gar als „mein spätgeborener Bruder“[111] angesehen wurde, ist ein Beispiel für die Aufstiegschancen im Steppenfeudalismus.[112] Denn Šigi-Quduqun war kein Mongole. Die Mongolen hatten, nach Taube, 1182 oder 1183[113] ein befestigtes Lager der Tataren geplündert und waren dabei auf den ungefähr sechs Jahre alten Knaben gestoßen. Der goldene Nasenring und weiterer Schmuck verrieten die edle Herkunft des Kindes, weshalb Dschinghis Khan es seiner Mutter zum Geschenk machte, die es als sechstes adoptierte. Der ganze § 135 erzählt von dieser Adoption und auch im Rest der Geheimen Geschichte fallen nur die Namen von Dschinghis Khan und Ögödai häufiger als sein eigener. Auch wenn Šigi-Quduqun sich nie als Verfasser zu erkennen gibt, so spricht diese Tatsache deutlich für seine Autorenschaft. „Offen bleibt allerdings, auf welche Weise verschiedene Widersprüche, wie etwa bei der Darstellung der Westfeldzüge, in den Text gekommen sind, die man bei Augenzeugenberichten nicht erwarten würde.“[114]
Der Vollständigkeit halber weist Taube daraufhin, dass früher in Tata Tung?a der Autor gesehen wurde. Dieser Angehörige des Stammes der Naiman und Lehrer von Dschinghis Khans Söhnen kam allerdings erst 1204 zu den Mongolen „und konnte demnach kaum so gut über das frühere Leben des Herrschers unterrichtet sein“.[115]
Pavel Poucha regt in seinem gleichnamigen Buch an, „[d]ie Geheime Geschichte der Mongolen als Geschichtsquelle und Literaturdenkmal“ zu betrachten.[116] Die Trennung zwischen diesen Gattungen verlaufe deutlich durch den ersten Teil (§ 1-124), der sich mit den vorgeschichtlichen Ereignissen in der mongolischen Geschichte befasse und dem zweiten Teil (§ 125-282), der von den geschichtlichen Ereignissen handele.[117] Die Verlässlichkeit der Darstellung dieses zweiten Teils lässt sich durch den Vergleich mit anderen Quellen, die sich aus derselben alten mündlichen Überlieferung nähren, überprüfen.
Nach Taube hat „Rasch?d ad-D?n (1247-1318), der Geschichtsschreiber der Il-Qane in Persien [...] für seine große, 1314 vollendete Weltgeschichte Jam? al-Tâwâr?kh den Text der >Geheimen Geschichte< wahrscheinlich verwendet.“[118] Dem Hofschreiber war, so Poucha, an einer dynastischen Genealogie seiner Auftraggeber gelegen, weshalb er auch über andere Stämme, dies aber sehr ungenau, berichte. Die Nennung derselben Ereignisse wie in der GG stütze diese, die Abweichungen dabei lassen aber der historischen Verläßlichkeit der Geheimen Geschichte mehr vertrauen.[119]
Auch der mongolische Historiker Lobsang-dandzin konnte ein Exemplar der Chronik für seinen Goldenen historischen Bericht (Altan tob?i) benutzen.[120] Diese Kopie war wohl 1368, als die Mongolen nach dem Sturz der Yuan-Dynastie aus China flohen, in die Steppe gekommen.
Die neue Ming-Dynastie verordnete dem eigenen Institut für Literatur das Studium der mongolischen Sprache. Eine Maßnahme der Gegnererkundung, um der Gefahr aus dem Norden Herr zu werden. Einer der Übungstexte im Institut war eben die mongolische Chronik. Vielleicht bekam sie bei dieser Gelegenheit den Titel Geheime Geschichte, da „diese Aufzeichnungen nur für den internen Gebrauch des Hofes und nicht für eine breite Öffentlichkeit bestimmt waren.“[121] Schließlich sollten die Unabhängigkeitsbestrebungen der Mongolen keine neue Nahrung bekommen.
Tatsächlich blieb die Existenz dieses Textes jahrhundertelang im Westen unbekannt. Im Osten dagegen, an den Orten seiner Entstehung, lebte er in Form der mündlich Überlieferung bis heute fort. 1847 verfasste ein anonym gebliebener Chinese die Geheime Geschichte der Yüan-Dynastie mit Teilen der alten mongolischen Chronik. Ein Aufsatz des französischen Sinologen Paul Pelliot brachte der europäischen Forschung 1920 das Wissen um die Existenz dieses Textes. Zeitgleich fingen Pelliot in Paris und Erich Haehnisch in Berlin mit der Arbeit an der Übersetzung an. Neuere russische Beschreibungen der alten Chronik erreichten Haehnisch im auch wissenschaftlich isolierten Deutschland ab 1933 dann nicht mehr. Dennoch gelang ihm 1935 die Rekonstruktion des Textes. Sein jüdischer Verleger Bruno Schindler musste nach England emigrieren, weshalb das Werk erst 1940 im Verlag Otto Harrassowitz gedruckt wurde. Doch „nur wenige Besprechungsexemplar fanden damals, mitten im zweiten Weltkrieg, den Weg ins Ausland. [...] 1943 vernichtete zudem ein Bombenangriff auf Leipzig den Großteil der Auflage“.[122] Nach dem Krieg erschienen dann posthum Pelliots französische Übersetzung, eine russische von Kozin, und auch die deutsche Ausgabe von Haehnisch wurde bekannt. Aufgrund dieser Textwiederherstellungen wurde die Forschung intensiviert, und es erschienen Übersetzungen in vielen Sprachen.
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[98] Die relative Sicherheit in der Angabe der Jahreszahl bezieht sich auf eine im Text genannte Versammlung im so genannten Rattenjahr. Diese Kombination bezeichnet für die Forschung das Jahr 1240, wenn auch andere Rattenjahre 1204 und 1228 waren. Vgl. Poucha, Pavel: Die Geheime Geschichte der Mongolen als Geschichtsquelle und Literaturdenkmal, Prag 1956. S. 9.
[99] Die Kunde von Ogodais Tod sorgte für den Rückzug der in Ungarn und Liegnitz lagernden mongolischen Heere. Die bereits bei Liegnitz einmal geschlagenen deutschen Ritterheere und der Rest Europas wurde nur durch die Notwendigkeit der Mongolen, innere Angelegenheiten zu regeln, verschont.
[100] Heissig, Walther (Hrsg.): Die geheime Geschichte der Mongolen, übers. v. Erich Haenisch, Düsseldorf, Köln 1981. S. 8.
[101] Ebd., S. 8.
[102] Wie in Kap. 2.2. dieser Arbeit beschrieben, lagen das Sich-Zutrauen der Weltherrschaft wesentlich in der Biografie und dem Sendungsbewusstsein Dschinghis Khans begründet.
[103] Nach Poucha, S. 183.
[104] Ebd., S. 184.
[105] Der russische Übersetzer Sergej Andrejewitsch Kosin (1879-1956) hat diese Literaturgattungen bei seiner Analyse des Inhalt der Chronik gefunden. Nach Poucha, S. 184f.
[106] Ebd., S. 183.
[107] Vgl. Kap. 2.1. dieser Arbeit.
[108] Poucha, S. 184.
[109] Taube, Manfred (Hrsg. u. Übers.): Die Geheime Geschichte der Mongolen, Herkunft, Leben und Aufstieg ?inggis Qans, München 1989, S. 289. Das Zitat ist irreführend, war Šigi-Quduqun doch eben kein Mongole.
[110] Poucha, S. 188.
[111] Spätgeborener war Šigi-Quduqun, da Dschinghis Khan rund dreißig Jahre älter war.
[112] Zur Erklärung dieses Begriffes siehe Kap. 2.1.1 dieser Arbeit.
[113] Taube, S. 289. Poucha nennt das Jahr 1197. Vgl.: Poucha, S. 188.
[114] Taube, S. 289.
[115] Ebd., S. 289.
[116] Poucha, Pavel: Die Geheime Geschichte der Mongolen als Geschichtsquelle und Literaturdenkmal, Ein Beitrag zu ihrer Erklärung, Prag 1956.
[117] Ebd., S. 8.
[118] Taube, S. 289.
[119] Poucha, S. 16f.
[120] Nach Poucha, S. 9 ist dieser Bericht zwischen 1649 und 1736 entstanden.
[121] Taube, S. 290.
[122] Heissig, S. 283.
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