Dschingis Khan

Die Mongolen unter Dschingis Khan

von Simon Hollendung und Björn Böhling

4.2.2 Ende der Zeiten? Der Mongolensturm (1240-1245)

Der Einfall der Mongolen in Ungarn und Polen schockierte das Abendland und rückte die lange unterschätzte Gefahr brutal in den Fokus der Aufmerksamkeit. Für die betroffenen Gebiete und den Rest Europas kamen die Horden plötzlich und aus dem Nichts. Ein Umstand, der die Legendenbildung beflügelte.

Friedrich II. verlor seine zuvor noch zur Schau getragene Sorglosigkeit und schrieb eine von Panik gezeichnete Enzyklika an die Herrscher Europas.[144] Darin rief er zur Einigkeit des Abendlandes auf. „Der Kaiser mußte einräumen, daß er die Gefahr bisher unterschätzt habe, solange ihn noch so viele mächtige Fürsten von den heranstürmenden Tartaren trennten.“[145]

Nun seinerseits den König Béla von Ungarn der Trägheit und Sorglosigkeit bezichtigend, erklärte Friedrich „sich bereit, die Führung im Abwehrkampf zu übernehmen.“[146] Er verstand dies als seine imperiale Pflicht, ließ als gewandter Politiker aber auch nicht außer Acht, seine Vormachtsstellung weiter auszubauen und Papst Gregor die Schuld an der Uneinigkeit der Christenwelt zu geben.[147]

Die dafür nötige kühle Analyse kehrte schon wenig später in einem Brief an Heinrich III.[148] wieder zu Friedrich zurück. Die Panik war verflogen, der Herrscher übersah die Situation, wertete jede Nachricht über den Tatareneinfall aus und kam zu einem distanzierten und detaillierten Urteil. Diese Gegneranalyse zeugt von seiner Neugier, sie verweigert sich jeder Mystik und Übertreibung. Die Stärke der Mongolen sei ihre Diziplin[149], stellte der Kaiser, der so oft um Gehorsam kämpfen musste, durchaus mit einem neidischen Unterton fest. Die Polemik, die in der Beschreibung der Tataren nun vollständig verschwunden war, kehrte erst wieder in Schuldzuschreibungen an den Papst zurück und steigerte sich zum Ende des Briefes in die bekannten Topoi vom Endkampf des Guten gegen das Böse in der Welt.[150]

Dieser Aufruf zum Kampf, geschrieben vom Kaiser im Zenit seiner Macht, blieb ebenso erfolglos wie die päpstlichen Schreiben. „Einzig die wirklich bedrohten Fürsten in Deutschland hatten sich aufgerafft. Die Herrscher Westeuropas blieben stumm.“[151]

Den Augenzeugenberichten und Klageliedern jener Zeit blieb die rationale Ebene verschlossen, sie überhöhten die erlebten Schrecken ins Unermessliche. So schrieb Rogerius von Torre Maggiore: „Sie [die Tataren] berauschten sich am Gemetzel und brieten in ihrer Wut gegen sie lebende Menschen wie Schweine zu Tode.“[152] In diesem Klagelied blieb die Verzerrung der Tataren als blutrünstige Kannibalen die Ausnahme, es zeichnete sich ansonsten durch die genaue Beschreibung eines Augenzeugen aus. Doch auch die drastische Erzählung dessen, was tatsächlich passierte, bekam apokalyptische Züge:

„Denn auf Feldern und Wegen lagen die Leichen von zahlreichen Gefallenen, hier enthauptet, dort verstreut in Dörfern und in Kirchen eingeäschert, wohin sie vergebens geflohen waren. Diese schrecklichen Leichenhaufen bedeckten die Straßen über eine Entfernung von zwei Tagesreisen, die Erde war dort ganz vom Blut gerötet und die Leichen lagen so [zahlreich] am Boden, wie sich Rinder, Schafe und Schweine an Weidestellen in der Wüste und Steine zu Hauf in Steinbrüchen sammeln. Das Wasser barg die Leichen der Ertrunkenen. Sie dienten Fischen, Würmern und Wasservögeln zum Fraß. Die Erde wurde zum Eigentum der Leiber, die durch vergiftete Lanzen, Schwerter und Pfeile gefällt worden waren; blutgierige Vögel und gefräßige Bestien, ob Haustiere oder wilde, verschlangen die Leichen bis auf die Knochen. Das Feuer verzehrte jene Toten, die in Kirchen und Dörfern verbrannten. Manchmal löschte das Fett, das bei den Verbrennungen zutage trat, das Feuer.“[153]

Diese Beschreibungen stellen, typisch für das Genre Carmen miserabilis, eine Art Zusammenfassung dar. Dem gegenüber stehen auch Schicksale einzelner Städte, wie die Zerstörung der Stadt Waitzen, die sich auch im Verstehen der Grausamkeiten religiöser Motive bedienen:

„Die Tartaren besiegten sie in erbittertem Kampf, bemächtigten sich des Kirchenschatzes und metzelten Domherren und andere Personen, Frauen und Mädchen nieder und verbrannten sie. So sehr litten die Einwohner von Waitzen am Passionssonntag, daß sie es verdienten, am Opfertod des Herrn Jesus Christus teilzunehmen.“[154]

Im Vergleich mit den Gräueltaten in Asien, wie in unserem Darstellungskapitel 3 beschrieben, wird deutlich, dass hier ein, im weitesten Sinne, Augenzeuge und ein Mann des Glaubens schrieb.

Rogerius sprach für viele Leidensgenossen, wenn er in jenen Zeiten wünschte, lieber tot zu sein.

„[D]enn wer auch immer in die Hände der Tartaren geriete, für den wäre es besser, ‚wenn er nicht geboren wäre’. Denn er wird merken, daß er nicht von den Tartaren, sondern im Tartarus festgehalten wird. Der dies berichtet, hat es auch durchlitten. Denn ich war ‚eine und eine halbe Zeit bei ihnen, in der Sterben Trost bedeutet hätte, wie das Leben eine Qual war’“.[155]

Gerade auch wegen der Zeit in der Gefangenschaft bei den Mongolen, auf die hier angespielt wird, ist das Klagelied das „bedeutendste und ausführlichste Zeugnis über den Tartareneinfall in Ungarn.“[156] Der Verfasser gehörte seit ungefähr 1230 dem Klerus an, befand sich seit 1232 als Kaplan und später als Archidiakon in Ungarn, wo er 1241 Augenzeuge des Überfalls wurde. Rogerius von Torre Maggiore wurde im selben Jahr gefangen genommen und musste sein Leben als Diener eines Tataren fristen. 1243 gelang ihm die Flucht und anschließend, auch gerade wegen seines Wissens über die Gefahr aus dem Osten, der klerikale Aufstieg bis zum Erzbischoff von Spalato. Wahrscheinlich nahm er am Konzil von Lyon teil, mit Sicherheit hatte er „maßgeblichen Einfluss auf die päpstliche Tartarenpolitik“.[157] Rogerius wurde von höchsten Würdenträgern gehört und auch die weltliche Macht, vor allem König Béla IV. von Ungarn, war ihm zeitlebens wohlgesonnen.

Das Carmen miserabilis sollte vor allem ein Erfahrungsbericht an seinen Gönner, den Kardinallegaten Jacopo di Pecorari, sein. Auf diesem Wege erreichte der Bericht auch den Papst, der diese Informationen nutzte, um „über Maßnahmen zur Abwehr der Tartaren auf dem bevorstehenden Konzil von Lyon zu beraten.“[158] Des Weiteren wollte Rogerius durch die drastische Schilderung des persönlich erfahrenen Leidens seine Abberufung aus Ungarn erreichen. Obwohl sein Gönner starb, erfüllte ihm ein neuer Fürsprecher, der Kardinal Johannes Toletanus, diesen Wunsch.

Ein wichtiges, wenn auch nie explizit gemachtes, Ziel des Klageliedes war die Suche nach Gründen für die Niederlage Ungarns. Den Hauptgrund sah Rogerius in dem Streit zwischen König Béla IV. und den Baronen des Landes. Dabei stand er auf der Seite des Königs, den er in eine Reihe mit den „bedeutendsten Herrschern Ungarns, den ‚heiligen Königen’ Stephan, Ladislaus und Koloman“[159] sah. Béla habe sein Land rechtzeitig schützen wollen, sei dabei aber von den Großen des Landes zu wenig, von einigen überhaupt nicht, unterstützt worden.

Zwischen König Béla IV. und seinem Volk war ein tiefer Riss entstanden. Nach dem Tod seines Vaters, König Andreas, versuchte Béla hart durchzugreifen. Er entmachtete die eigenwilligen Barone und verbrannte ihre Stühle als Symbol für die Unantastbarkeit des Königsthrons. Béla demoralisierte das Militär, indem er Ausgleichszahlungen für im Kampf erlittene Verletzungen oder Verluste an die Soldaten oder deren Angehörige einstellte. Er verminderte sogar das zugewiesene Eigentum und schwächte somit eine große, zum Machterhalt sehr wichtige Bevölkerungsgruppe.

Den Hass des ganzen Volkes zog Béla auf sich, als er die Kumanen ins Land holte. Dieses Volk, östlich von Ungarn beheimatet, befand sich auf der Flucht vor den Tataren. Béla freute sich über die Anfrage ihres Königs Kuthen und hoffte, die Kumanen zu missionieren. So zogen über 40.000 Menschen quer durch Ungarn: Ihre Viehherden verwüsteten das Land, es kam zu Mord und Vergewaltigungen und das Volk hasste seinen König, weil er ein „ungestümes, gefährliches und ungebärdiges Volk“[160] ins Land gelassen hatte.[161]

Aus diesen Gründen hätten sich die Gegner Bélas seine Niederlage gewünscht und deswegen ihr Land dem Tatarensturm freigegeben. In seinem wohltuendem Sinn nach Ausgeglichenheit beschrieb Rogerius aber auch die Führungsschwäche des Königs und seinen zeitweiligen Kleinmut im Kampf. Keinen christlichen Fürsten und weder Papst noch Kaiser sprach er von einer Mitschuld frei.

Weil dieses Motiv sein Schreiben leitete, hielt er sich nicht mit Details zu Aussehen und Herkunft der Tataren auf. Viel Raum bekamen Grausamkeit und Intensität der Angriffe:

„So kämpften sie eine Woche lang bei Tag und Nacht, bis sie die Gräben gefüllt hatten und das Dorf einnahmen. Die Ritter und die adligen Damen, die in großer Zahl vertreten waren, brachte man aus dem Dorf auf ein freies Feld, die Bauern auf ein anderes. Man beraubte sie ihres Geldes, der Waffen, Kleider und sonstiger Besitztümer und mordete sie grausam mit Beilen und Schwertern. Nur einige Frauen und Mädchen lies man am Leben, um sie zu mißbrauchen. Nur jene überlebten von den anderen, die sich, vom Blut anderer Opfer bespritzt, hatten hinfallen lassen und sich so verbergen können. O welch Schmerz, Grausamkeit und unermeßliches Wüten! Wer hätte als vernunftbegabter Mensch die Abschlachtung einer Volksmenge mitansehen können, ohne diesen Ort zu Recht als Blutacker zu bezeichnen.“[162]

An anderer Stelle heißt es: Die „Tartaren, denen nur am Morden lag, schienen sich um Beute nicht zu kümmern.“[163] Rogerius entdeckte dahinter ein Motiv bei den Mongolen. Es sei geplanter Terror gewesen, der das Land verheerte und als Einschüchterungsmaßnahme sämtlichen Widerstand lähmen sollte. Auch die Verschlagenheit und List der Angreifer wurde geschildert. So etwa bei der mongolischen Taktik, sich oft sehr weit zurückzuziehen, um diejenigen, die sie verfolgten in grausame Fallen laufen zu lassen. Das Versenden von gefälschten Briefen im Namen des Königs, um die so beruhigte Bevölkerung dann abzuschlachten, hielt er für ein von keinem Christenmenschen mögliches Verbrechen.

Doch schildert Rogerius auch eine andere Seite der Mongolen. Einem im Kampf gestürztem Kameraden würde sofort von anderen unter Einsatz des eigenen Lebens geholfen. Allerdings seien es meist Untergebene, die ihren Herren so zur Hilfe eilten. Auch gebe es Ortschaften die, wenn sie sich sofort vollständig ergeben hätten, von den Mongolen verschont blieben. Im deutschen Radna durfte die Bevölkerung ihren Dorfvorsteher aus den Reihen der mongolischen Befehlshaber selber wählen und wurde dann von diesem unter seinen persönlichen Schutz gestellt.

Es erscheint den geschilderten Gräueltaten zu widersprechen, wenn Rogerius über die mongolische Herrschaft schreibt: „Wir hatten Frieden und geregelte Verhältnisse, jedem wurde sein Recht zuteil.“[164]

Diese Einschätzung deckt sich mit anderen Quellen. Demnach hätten die Mongolen mit einem strengen Rechtssystem und guter Organisation Zustände geschaffen, die wesentlich besser waren, als die vorherigen rechtsfreie Räume, von denen es aufgrund von Kompetenzschwierigkeiten in Europa nicht wenige gab. Dieses humane Seite zeigten die Mongolen immer erst dann, wenn sämtlicher Widerstand grausam gebrochen worden war. Nach vollständiger Eroberung und Sicherung des Gebietes gab es tatsächlich so etwas wie eine pax mongolica. Das führte auch dazu, das es ungarische Überläufer gab, die sich freiwillig den Tataren in Tracht, Sprache und Gewohnheiten immer mehr anpassten.

Diese ausgewogene Schilderung macht das Klagelied des Rogerius von Torre Magiore zum wichtigsten Zeugnis des Mongolensturmes in Ungarn. Zur raschen Verbreitung unter den Zeitgenossen wird auch der hohe literarische Wert beigetragen haben. Obwohl selber ein Mann der Kirche, ließ Rogerius keine apokalyptischen Erklärungen zu. Wo religiöse Motive auftauchten, geschah dies, weil das Erlebte rational nicht mehr fassbar schien.

Diese realistische Sicht hätte mit Sicherheit mehr Anklang gefunden, wenn nicht auch das Verschwinden der Mongolen einem Mysterium glich. Der Papst, dem angesichts der eigenen Hilflosigkeit nichts übrig blieb, als die Christenwelt zum geistigen Kampf gegen das Böse aufzurufen, schien Recht zu haben, und allein das gemeinsame Beten vertrieb die Herden der Hölle so plötzlich und unvorbereitet, wie sie gekommen waren.

[144] MGH, Constitutiones II, Nr. 235, S. 322-325.

[145] Bezzola, S. 77.

[146] Ebd., S. 77.

[147] Vgl. Bezzola, S. 77f.

[148] Vgl. Bezzola, S. 78.

[149] Womit er m.E. genau den Punkt traf, durch den die Mongolen unter Dschinghis Khan erst zur Weltherrschaft fähig wurden: Disziplin, erzwungen durch den yassaq (Vgl. Kap. 2.1.4 und 2.5).

[150] Vgl. Bezzola, S. 79f.

[151] Bezzola, S. 81.

[152] Rogerius von Torre Maggiore: Klagelied, übers. u. erläutert von Hansgerd Göckenjan, in: Ders. (Hrsg.): Der Mongolensturm, Berichte von Augenzeugen und Zeitgenossen, Graz u.a. 1985. S. 127-187, hier: S. 182.

[153] Ebd., S. 165.

[154] Ebd., S. 156.

[155] Ebd., S. 140. Die Anführungszeichen im Text entstammen dem Original, verweisen aber auf kein Zitat.

[156] Ebd., S. 129.

[157] Ebd., S. 129.

[158] Ebd., S. 131.

[159] Ebd., S. 133.

[160] Ebd., S. 142.

[161] Vgl. ebd., S. 141f. Aus diesem Grund erobert Ottokar von Böhmen später Ungarn (Vgl. Kap. 4.2.3.).

[162] Ebd., S. 179.

[163] Ebd., S. 166.

[164] Ebd., S. 177.
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