Dschingis Khan

Die Mongolen unter Dschingis Khan

von Simon Hollendung und Björn Böhling

4.4 Die Perzeption der Mongolen in der Gegenwart

Nachdem bis jetzt ausschließlich versucht wurde, die Wahrnehmung der Mongolen in relativ zeitnahen, mittelalterlichen Quellen zu rekonstruieren, soll sich im Folgenden die Untersuchung auf die Gegenwart beziehen. Geschichte ist nicht nur eine Veranstaltung der Fachwissenschaft, sondern durchdringt die Gesellschaft. Professionell angeleitetes historisches Lernen führt zur Ausdifferenzierung eines fundierten Geschichtsbewusstseins und zur Bildung von verschiedenen Sinndeutungen. Im Gegensatz dazu führt die bloße unreflektierte Aufnahme von ‚Geschichte’ zu einem Geschichtsbewusstsein voller Stereotype, Vorurteile und Reduzierungen. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, ob und wie sich ‚Der Dschingis Khan’ oder ‚Die Mongolen’ in der deutschen Geschichtskultur wiederfinden lassen. Neben der Untersuchung der Ergebnisse der Fachwissenschaft, die in die bisherige Untersuchung schon eingeflossen ist, verbleiben als nächste große Bereiche die Betrachtung der schulischen Geschichtsvermittlung und der völlig frei von geschichtsdidaktischen oder geschichtstheoretischen Bezügen existierende Bereich der öffentlichen und z.T. marktorientierten Geschichtsvermittlung und -deutung, wie z.B. in TV-Dokumentationen, historischen Romanen oder Zeitungen und Zeitschriften und vielem mehr, denn „So viel Geschichte wie heute war nie“.[219]

Da die Mongolen wohl für den Geschichtsunterricht keinen Bildungsgehalt besitzen, jedenfalls war es nicht möglich, Lernmaterialien zu dem Thema zu finden, beschränkt sich die Betrachtung auf den nächsten Bereich. Untersucht wurden deutsche Zeitungen und Zeitschriften der letzten zehn Jahre.

Zunächst ist einmal zu konstatieren, dass ein Bezug auf Dschingis Khan oder die Mongolen gar nicht so selten ist, wie zunächst angenommen, obwohl mittelalterliche Themen insgesamt eher schwach vertreten sind – vor allem neuzeitliche und da besonders zeitgeschichtliche Themen werden dem Leser angeboten. Dank den modernen Datenbanken, die mit ihren (Volltext-)Suchfunktionen, die die Recherche sehr erleichtern, ist es möglich, gezielt, wie in diesem Fall, nach dem Begriff ‚Dschingis Khan’ zu suchen. Dies erleichtert auch aus dem Grund die Arbeit, weil der gesuchte Begriff in Kontexten auftaucht, in denen man ihn wahrscheinlich nicht gesucht hätte. Die erste Erkenntnis ist, dass der Name Dschingis Khan weniger in Artikeln und Reportagen über die Mongolen – dort natürlich auch – zu finden ist, sondern allen Veröffentlichungen. Relativ oft war der Name im Kontext des Nationalsozialismus zu finden:

„Abgesehen von Hunnenkönig Attila und von Mongolenführer Dschingis Khan in dunklen fernen Zeiten hat kein anderer Herrscher im Lauf der Geschichte ein so vollkommen destruktives, vollkommen negatives Erbe hinterlassen wie Adolf Hitler.[220] Oder: „Die SS-Elite war keine Dschingis-Khan Horde, die von außen in die deutsche Kultur eingebrochen ist.“[221]

Relativ häufig waren Beschreibungen der Mongolen, die schon bei flüchtiger Lektüre eindeutig negative Gedankenassoziationen beim Leser erzeugten (und beim fachwissenschaftlich vorgebildeten Leser für Erstaunen sorgten):

„Sie kamen, wie einst die Horden Dschingis Khans, aus der Steppe. In wenigen Wochen haben die Invasoren große Teile Sibiriens und Teile Südrußlands erobert. Jetzt bewegten sie sich in dichten Scharen in Richtung Moskau. Milliarden von Heuschrecken“.[222]

Des Weiteren fallen Stichworte wie „überstanden die Horden des Weltenzerstörers Dschingis Khan“.[223] In der Zeit wird über das vergangene Jahrhundert mit den Worten resümiert: „So spannend wie dieses Jahrhundert war noch keines und so grausig – jedenfalls nach der Wahrnehmung ebendieses Jahrhunderts. Mag sein, daß es früher sagen wir: bei Dschingis-Khan oder hautnäher bei Gilles de Rais – wilder zuging und wirrer.“[224]

Insgesamt ist festzustellen, dass die damaligen Mongolen in der Retrospektive alles andere als gut wegkommen.[225] Die Darstellung bezieht sich fast vollständig auf die Eroberungen und Gewaltakte Dschingis Khans und seiner Nachfolger. So müssen sie auch bei jeder Gelegenheit als Vergleichsobjekte herhalten, wenn es darum geht, Gewalt und Brutalität, die außerhalb des menschlichen Erfassungsvermögens liegt, auszudrücken – wie z.B. bei Hitler. Dabei wird die Geschichte nicht nur auf die Gewaltakte reduziert, die natürlich in den Vordergrund treten, aber, wenn man den Anspruch auf eine ausgewogene Darstellung hat, die zivilisatorischen Errungenschaften während der Herrschaft Dschingis Khans auch nicht vollständig verdrängen dürfen. Außerdem wird in der Berichterstattung personalisiert und gnadenlos nach heutigen Wertmaßstäben geurteilt. Es besteht hier keine Frage, dass es allein die ‚Politik des großen Mannes’ war, die zu der Expansion führte. Frei nach Brecht müsste man also frage: Dschingis Khan hat also die Welt erobert. – Er allein? Also Führerschaft alleine und nicht Strukturen und Gesellschaftsverhältnisse der damaligen Zeit brachten den Erfolg. In diesem Punkt unterscheidet sich die öffentliche Geschichtskultur doch stark von der professionalisierten. Eher komisch wirkt da schon die einzige Ausnahme, die bei der Suche gefunden werden konnte: Klaus Kinkel (FDP), ehemaliger Bundesaußenminister, verkehrte die Bewertung der Mongolen ins Gegenteil und verkündete bei einem Staatsbesuch in der Mongolei 1996: „Der Name Dschingis Khan steht für Standhaftigkeit, Mut, Kraft und Durchsetzungswillen.“[226] Allerdings bedarf es hier keiner tiefgründigen Quellenkritik, um den Satz als politisch opportun und standortgebunden zu erkennen.

Die Perzeption Dschingis Khans in der heutigen Zeit besteht also aus Stereotypen und Reduzierungen, die die historischen Sinndeutungen der mediävistischen Forschung allenfalls streifen.

[219] Bergmann, Klaus: Geschichtsdidaktik, Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens, 2. Aufl. Schwalbach/Ts., 2000, S. 13.

[220] Kershaw, Ian: Trauma der Deutschen, in: Der Spiegel vom 7.5.2001, Nr. 19, S. 62.

[221] Jasper, Willi: Zweite Identität, in: Die Zeit vom 20.6.1997, Nr. 26, S. 13.

[222] Klussmann, Uwe: Heuschrecken. Geschwader an der Wolga, in: Der Spiegel vom 26.7.1999, Nr. 30, S. 200.

[223] Malzahn, Claus Christian: Das verlorene Paradies, in: Der Spiegel vom 4.2.2002, Nr. 6, S. 136.

[224] Schuller, Alexander: Die Rache ist mein, in: Die Zeit vom 29.4.1998, Nr. 19, S. 49.

[225] Bei den heutigen Mongolen sieht es anders aus. Sie werden heute als immer noch unter den Auswirkungen der Herrschaft des Kommunismus leidend und als ein Volk, das über mehrere Länder verteilt ist, dargestellt.

[226] Klaus Kinkel in der Zeit vom 1.11.1996, Nr. 45, S. 2.
Bali Webkataloge